Die Rettungsaktion 1/3

Der Blick schweift vorsichtig nach rechts hinab. Jetzt bloß nicht das Gleichgewicht verlieren. 100 Meter unter mir der strömende Fluss, dessen betäubender Lärm mir seit Tagen in den Ohren liegt. Bis zum Fluss eine Schicht nicht endenwollendes Geröll, das über losem Sand liegt. Mein Blick richtet sich wieder nach vorn. Noch ca. 50m bis zum nächsten Strauch, dessen Wurzeln eine sichere Bodenfläche sein könnten. Der Schweiß tropft mir in die Augen. Die salzige Flüssigkeit brennt genauso erbarmungslos, wie die Mittagssonne. Keine Wolke am Himmel, es sind um die 35°. Ich wage einen Schritt vorwärts. Der rechte Fuß zu erst. Dann den Anderen nachziehen. Plötzlich bricht unter dem rechten Fuß der Boden weg. Sand, Geröll und Steine setzen sich in Bewegung und rollen den Hang hinab. Ich versuche mein Gleichgewicht zu halten. Die 18kg im Rucksack ziehen mich Richtung Abgrund. Als letzte Hilfe bohre ich meinen Wanderstock in den Boden. Doch der Stock zielt ins Leere. Ein losgelöster Stein trifft mich von Oben am linken Schienbein. Ich falle und bohre mit letzter Kraft meine Hände in den Schotter. Spitze Steine schlagen gegen meine Fingerknochen. Verkrampft kralle ich mich am Boden fest. Blut, Dreck, Schmerz, Schweiß. Das alles passiert in weniger als fünf Sekunden. Ich richte mich wieder auf. Die Hände sind dreckig und blutig. Ein Kratzer am Schienbein. Aber ich bin nicht gestürzt. Es muss weiter gehn. Noch 49m.

Ich wandere entlang des Flusses Talgar und möchte die gleichnamige Stadt erreichen. Mein GPS akzeptiert die Karte von Kasachstan nicht und ist nutzlos. Die Karte, die ich von der Gegend habe ist ebenfalls nutzlos. Ich kann nur erahnen, wo ich bin und wie weit es noch ist. Mein Handy bekommt kein Signal. Internet oder Hilfe rufen fällt also auch weg. Ich kann nur vorwärts.

Vor mir führt eine steile Böschung hinauf. Ich schlage mich durch meterhohe Brennnesseln, die mir über die nackte Haut streichen. Dann geht es steil bergab. Links von mir ist ein kleiner Vorsprung, auf den ich ein Fuß setzen kann, vor mir geht es abwärts, halbrechts von mir ragt ein Baum aus dem Abgrund. Ich schaue mich nach einem alternativen Weg um. Doch es gibt keinen. Ich stelle meinen Fuß auf den Vorsprung. Die Erde gibt nach, ich falle. Durch Glück pralle ich gegen den Baum und kann mich festhalten. Unter mir ein Felsen, daneben der Fluss. Mit letzter Anstrengung kann ich mich nach oben ziehen und habe wieder sicheren Boden unter den Füßen. Durch ein paar Dornensträucher, die sanft meine von der Sonne verbrannten Haut aufreißen, komme ich an eine Lichtung. Mein Blick fällt auf den Boden: frischer Bärenkot. Ich gehe schneller. Noch ein Haufen. Trotz Schnappatmung versuche ich zu singen, auf mich aufmerksam zu machen. Mein Herz rast. Langsam verzweifel ich mental. Das ist mir alles zu viel. Ich kann nicht mehr. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich denke permanent an die vielen Gefahren, wieviel Glück ich bisher hatte und wann es mich wohl verlässt. Dann rutsche ich bergab. Ich habe zu lange überlegt, mich nicht auf den Weg konzentriert. Mit ein paar Steinen rutsche ich abwärts und pralle mit meinem Kinn gegen einen Felsen. Der Kiefer ist intakt, Zähne sind auch noch alle da, ich blute auch nicht.

Ich schlage mein Lager auf und bin der Meinung, dass ich meinem Ziel näher bin als meinem Startpunkt. Am nächsten Tag geht es also weiter. Doch nur bis in die Mittagsstunden. Vor mir liegt ein unüberwindbarer Abgrund. Ich suche und suche nach einem Weg. Doch dieses Mal gibt es ihn einfach nicht. Ich muss mir etwas eingestehen, was sehr schwer fällt: es geht nicht weiter. Ich bin am Ende meiner physischen und psychischen Kräfte. Ich gehe ein paar Meter zurück, setze mich ans Uferbett und übelege. Mir fehlt die Kraft zurück zu gehen und vorwärts komme ich nicht. Ich bin in einer Sackgasse, aus der ich mich selbst nicht retten kann. Verzweifelt nehme ich mein GenSpot3 Sattelitengerät und drücke die SOS-Taste. Dann warte ich.

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